Zwischen Abstinenz und Bildrausch
Schon seit Mitte Juni ist im Schaulager in Münchenstein die Ausstellung «Future Present» der Emanuel-Hoffmann-Stiftung zu sehen. Ein Muss und eine so bald nicht wiederkehrende Gelegenheit für alle Kunstinteressierten im Basler Kunstsommer 2015.

Edmondo Savoldelli
Das erste Mal seit über 30 Jahren erlaubt die Emanuel Hoffmann-Stiftung der Öffentlichkeit einen vertieften Blick in ihren Sammlungsschatz und präsentiert in einem zur Ausstellung erschienenen 800-Seiten-Katalog ihren ganzen Bestand. Auch die üblicherweise nicht zugänglichen drei oberen Stockwerke des Schaulagers sind in Teilen zu besichtigen, dort werden raumfüllende Installationen und Videos gezeigt. Das braucht Zeit. Wer bereit ist, diese und eine grosse Portion Aufmerksamkeit zu investieren, wird reich beschenkt und staunt ob der Fülle und Qualität der Werke, die in der 82-jährigen Geschichte der Sammlung zusammengetragen wurden. Und dies, obwohl nur ein Drittel des etwa 1000 Werke umfassenden Bestands gezeigt wird.
Im Eingangsbereich hängt die 5er-Porträtserie «Maja» von Andy Warhol als Referenz an die Stiftungsgründerin Maja Sacher-Stehlin. Das macht natürlich Sinn, ebenso, dieser Serie jene von Jeff Wall («Young Workers») an die Seite zu stellen. Leinwandbild versus Grossbilddia in Leucht-
kasten – klassische Materialien und neue Medien.
Den eigentlichen Auftakt zur Ausstellung machen Bilder des flämischen Expressionismus. Dann geht es weiter zur klassischen Moderne mit all ihren Stilen des Fauvismus, Kubismus, Surrealismus und der konkreten Kunst. Ikonen der Moderne (Picasso, Delaunay, Klee, Kandinsky, Dalì, Mondrian, Ernst u. a.) sonst vom Museumsbesuch bekannt, finden sich plötzlich in Münchenstein. Zunächst von Kuratorin Heidi Naef chronologisch gehängt, dann mit Konzentration auf Werkgruppen und ganze Räume einzelner Künstlerinnen und Künstler, schreitet die weitgehend festgeschriebene Kunsthistorie mit Jean Tinguely, Dieter Roth, Richard Long und Joseph Beuys als eine Art kulturelles «Survival of the Fittest» weiter voran in die Gegenwart mit ihren unterschiedlichen Positionen. Bruce Naumann, Cindy Sherman, Robert Gober, Katharina Fritsch bilden Schwerpunkte.
Hier wird die Arbeit der Stiftung deutlich, die nichts mit blossem Ankaufen etablierter Kunst zu tun hat. Künstler werden begleitet, gefördert, Werke angekauft und präsentiert. Grosse Ausstellungen der letzten Jahre zeigten die Zeitgenossen Jeff Wall, Tacita Dean, Francis Alÿs, Robert Gober, Matthew Barney, Paul Chan und andere. Die Kunstwelt schaut nach Münchenstein, die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler erfahren eine Aufwertung ihres Rankings. Wird durch Mäzenatentum Kunstpolitik betrieben, gar Kunstgeschichte geschrieben?
Prominente Abwesende
Die Sammlung der Emanuel-Hoffmann-Stiftung ist allerdings kein Panoptikum der Kunstgeschichte des letzten Jahrhunderts und der Kunstgegenwart, das kann und will die Sammlung auch nicht sein. Obwohl die Schweizer Künstler mit Alberto Giacometti, Walter Bodmer, Jean Tinguely, Anselm Stalder, Martin Disler, Fischli/Weiss (prominent), Mirjam Cahn, Hannah Villiger, Jean-Frédéric Schnyder, Rémy Zaugg und anderen sehr gut vertreten sind, vermisst man etwa Pipilotti Rist. Überhaupt die Abwesenden. Natürlich muss bei so viel Prominenz auch der ebenso prominenten Abwesenden gedacht werden. Die Deutschen Lüpertz, Baselitz, Polke, Oehlen, Kiefer, Richter fehlen. Die grossen Amerikaner Pollock, Newman, Kline, Rothko, Motherwell, Rauschenberg, Cage: absent.
Allerdings war es nie das Ziel der Emanuel-Hoffmann-Stiftung, möglichst vollständig zu sein, denn die Öffentliche Kunstsammlung Basel, welcher die Bilder als Dauerleihgabe übergeben worden sind, ist im Besitz kongenialer Ergänzungen. «Die Sammlung ist stark von der jeweiligen Persönlichkeit des Stiftungsrats, allen voran der Präsidentin, geprägt. Betrachtet man zum Beispiel die Ankäufe in den späten 1970er- und 1980er-Jahren, so fällt auf, dass viele Einzelwerke in die Sammlung Eingang fanden. Das ist zum Teil ein Spiegel des in dieser Zeit vergrösserten Stiftungsrates, dessen Mitglieder ganz unterschiedliche Zugänge zur Kunst hatten. Vera Oeri – die die Stiftung in dieser Zeit präsidierte – wollte die Ankaufspolitik nicht im Alleingang bestimmen, wie es die Stiftungsgründerin Maja Sacher-Stehlin noch getan hatte. Die Sammlung wurde zu dieser Zeit ‹demokratisch› weitergeführt. Auffallend ist, dass die Sammlung seit der Präsidialzeit von Maja Oeri ein sehr ausgeprägtes Profil bekommen hat und sich die Schwerpunkte deutlicher abzeichnen.» So das Statement des Schaulagers.
Fürs Sehen, Denken und Sicheinfühlen bleibt jedoch überaus genug zu tun. Zwischen den Polen von Abstinenz und Rausch gibt es die Provokateure und die Evokateure, die Rätselhaften und die Unterhalter, die Verweigerer und die Verführer.
Wenn aus Stühlen Personen werden
Mit dem Lift wird man in diskreter Begleitung in kleinen Gruppen in die oberen Stockwerke geführt. Hier ergibt sich ein völlig ungewohnter Blick auf die Innenarchitektur des Schaulagers. Die beeindruckenden Dimensionen und mächtigen Tiefenräume zeigen sich neu, und Vertigo mag für die eine oder den andern plötzlich zum Architekturraum-Erlebnis mit dazugehören.
13 Künstlerinnen und Künstler werden in diesen eigentlichen Schaulagerräumen zusätzlich gezeigt.
Hier kann man sich in die ästhetisch stupende Cremaster-Welt des Matthew Barney vertiefen, die dräuende Endzeitstimmung über Bergen, Hügeln und Stadt von Mirjam Cahn auf sich wirken lassen oder sich freuen, endlich einmal die Übersicht über Fischli/Weiss’ Sammlung an Tonskulpturen zu erhalten, welche uns die Schweizer Welt und ihre Mythen zeigen, wie sie wirklich sind. Bill Violas Videoinstallation «Five Angels for the Millennium» besticht durch die suggestive Kraft ihrer Bilder über Levitationen von Wasserkörpern in hypnotischer Langsamkeit. Und Mark Wallinger schliesslich hat einen Theatersaal inszeniert, dessen Parkett aus 100 Stühlen und Sesseln besteht, welche bei näherem Zusehen zu äusserst charakteristischen, vielfältigen Persönlichkeiten mutieren. Auf der Bühne läuft derweilen das Video einer Theateraufführung von Oscar Wildes «The Importance of Being Earnest», gesprochen in Esperanto, der Weltsprache – eine schöne Metapher für die Weltsprache der Kunst.
Future Present. Emanuel-Hoffmann-Stiftung. Zeitgenössische Kunst von der Klassischen Moderne bis heute. Bis 31. Januar 2016. Di, Mi, Fr 10–18 Uhr; Do 10–20 Uhr; Sa, So 10–18 Uhr. Zur Ausstellung ist ein sehr informatives Ausstellungsheft erschienen. Audioguide in Deutsch, Englisch und Französisch.
Future Present.
Die Sammlung der Emanuel-Hoffmann-Stiftung. Hrsg. von der Laurenz-Stiftung. 776 Seiten. Mehr als 1000 farbige Abbildungen, Hardcover. CHF 68.
Auf Mitte September ist im Schaulager ein weiterer Anwohner-Anlass geplant.