Der Anwalt der weiblichen Lust

Daniel Haag-Wackernagel hat die äusseren weiblichen Genitalien erforscht. Dazu ist der Biologe auch tief in die Geschichte eingetaucht – und hat Erstaunliches entdeckt.

Hält am 3. Februar in der Wydekantine einen Vortrag: Daniel Haag-Wackernagel, emeritierter Professor für Biologie in der Medizin, hier mit dem von ihm entwickelten Modell der Klitoris. Fotos: zVg

Hält am 3. Februar in der Wydekantine einen Vortrag: Daniel Haag-Wackernagel, emeritierter Professor für Biologie in der Medizin, hier mit dem von ihm entwickelten Modell der Klitoris. Fotos: zVg

Abbildung von 1165: «Das Weltenei» von Hildegard von Bingen stelle eine Vulva dar, erklärt der Biologe Daniel Haag-Wackernagel.

Abbildung von 1165: «Das Weltenei» von Hildegard von Bingen stelle eine Vulva dar, erklärt der Biologe Daniel Haag-Wackernagel.

Die weibliche Scham ist – wie es dieser Begriff schon vorwegnimmt – noch immer ein Tabuthema. Die Vulva, also das äussere Geschlechtsorgan der Frau, wurde von der Forschung weitgehend ignoriert. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch: Das war nicht immer so.

Daniel Haag-Wackernagel, emeritierter Professor für Biologie in der Medizin an der Universität Basel, forscht seit 2013 über das weibliche Sexualorgan. «Ich habe bald gemerkt, dass es grosse Mängel in der Forschung gab – in Lehrbüchern fand man keine anatomisch korrekten Abbildungen der weiblichen Schwellkörper und der sie umgebenden Strukturen. Dabei ist die Klitoris das zentrale Lustorgan der Frau, nicht die Vagina», sagt Haag-Wackernagel. Der Biologe hat deshalb als Erster ein anatomisch korrektes dreidimensionales Modell der Vulva und der Klitoris entwickelt. Viele Gynäkologen seien froh um die neu gewonnenen Erkenntnisse – auch sie wüssten meist zu wenig Bescheid. So ist beispielsweise der Verlauf der Nerven, die das empfindliche Organ durchziehen, vielen nicht bekannt. Die weibliche Lust spiele bei vielen Ärzten keine Rolle. «Dabei hat eine Studie gezeigt, dass es grosse Unterschiede bei der Zufriedenheit von Frauen und Männern in Bezug auf ein erfüllten Sexualleben gibt.» Ein grosses Problem sei, so Haag-Wackernagel, dass Sexualität noch immer ein Tabuthema ist. Dabei sei es essenziell, darüber zu sprechen, sagt Haag-Wackernagel. «Die sexuelle Gesundheit ist zentral. Hausärzte sollten bei Allgemeinuntersuchungen auch auf ­dieses Thema eingehen.»

Anatomischer Lernatlas wird dank Studentinnen angepasst

Erst in den letzten fünf Jahren hat die Forschung an den äusseren weiblichen Genitalien Fahrt aufgenommen. Das zeigt sich exemplarisch an der Überarbeitung des «Lernatlasses der Anatomie Prometheus» für Medizinerinnen und Mediziner. Studentinnen hatten sich an den Verlag gewendet, weil die männlichen Genitalien viel ausführlicher dargestellt waren als die weiblichen. Als der Verlag auf das Ungleichgewicht aufmerksam wurde, holte er Daniel Haag-Wackernagel für die Überarbeitung an Bord. In Zusammenarbeit mit dem Herausgeber und einem wissenschaftlichen Grafiker sind so detailgetreue Abbildungen des Bulboklitoralorgans, wie die genaue wissenschaftliche Bezeichnung lautet, entstanden. Ein wichtiger Schritt, findet Haag-Wackernagel. «Schon in Schulbüchern finden sich oft fehlerhafte Darstellungen, sodass die Studierenden teilweise mit sehr mangelhaftem Vorwissen ins Studium starten.»

Dass es so lange dauerte, bis die Forschung auf die Lücken aufmerksam wurde, ist erstaunlich. Denn die weiblichen Geschlechtsorgane wurden bereits im 17. Jahrhundert genauer dargestellt als in modernen Büchern; der niederländische Arzt Regnier de Graaf legte 1672 erstaunlich detaillierte Darstellungen einer Klitoris vor.

Ihm folgte Georg Ludwig Kobelt 1844 mit ebenfalls bis heute unübertroffenen Abbildungen. Zudem beschrieb er die geringe Bedeutung der Vagina für das Lustempfinden der Frau. Haag-Wackernagel geht in der Geschichte noch weiter zurück: «Die Abbildung ‹Das Weltenei› von Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert stellt recht klar eine Vulva dar.» Und die Hebamme Jane Sharp erkannte schon 1671, dass Klitoris und Penis homolog sind – sprich von einer gemeinsamen Anlage abstammen und eine gleiche Physiologie aufweisen. Bis heute wird sie jedoch kaum zitiert. «Vermutlich weil sie als Frau und Hebamme nicht ernst genommen wurde», erklärt Haag-Wackernagel.

Das Wissen ging nicht zufällig «verloren»

Auf die historischen Abbildungen ist Haag-Wackernagel bei seinen Recherchen gestossen. «Ich war begeistert von der Arbeit dieser frühen Forscher. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, warum das Wissen in der Moderne verloren gegangen scheint.»

Der Biologe stellt dazu zwei Hauptthesen auf. Die Forschung fand im 19. Jahrhundert heraus, dass Frauen für die Befruchtung keinen Orgasmus brauchen – seit der Antike hatte man geglaubt, die Frau müsse dabei eine Art Samen produzieren, um schwanger zu werden. «Die katholische Kirche gab zeitweise gar Empfehlungen heraus, wie ein Mann eine Frau befriedigen kann. Als die Wissenschaft dann den Zyklus entdeckte und klar wurde, dass es keinen Orgasmus für die Empfängnis braucht, wurde die weibliche Lust zunehmend vernachlässig», erklärt Haag-Wackernagel. Zudem seien Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa einige Frauenbewegungen aufgekommen, wodurch sich Männer in ihrer Rolle bedroht fühlten. Während der beiden Weltkriege zeigte sich, dass Frauen ohne weiteres in der Lage waren, ihre abwesenden Männer zu vertreten und erfolgreich Betriebe zu leiten, was die Gleichwertigkeit der Geschlechter bestätigte.

«Ein Ausdruck männlicher Dominanz ist auch der jahrhundertealte Mythos des G-Punktes, bei dem der Penis die Macht über die Erzeugung der weiblichen Lust besitzt. Bis heute konnte kein wissenschaftlicher Nachweis für die Existenz des G-Punktes erbracht werden», erklärt Haag-Wackernagel.

Obskure Geschichte(n)

Sogar vor Kastrationen und Klitorisbeschneidungen, vor allem bei benachteiligten Frauen, schreckte man nicht zurück: «Man glaubte zeitweise, Frauen gefügig machen zu können, indem man ihnen den Sexualtrieb nahm. Auch Krankheiten sollten damit angeblich ­geheilt werden. Das ist natürlich ­Blödsinn.»

Am Freitag in einer Woche hält ­Daniel Haag-Wackernagel in der Wydekantine in Dornach seinen rund einstündigen Vortrag über die Klitoris und die Abwertung der weiblichen Lust. Dabei geht er neben den biologischen Fakten auch auf amüsante oder obskure Geschichten ein. Und er erklärt, was Sigmund Freud mit der ganzen Sache zu tun hat. Nach dem Vortrag steht der emeritierte Professor für Fragen oder Diskussionen bereit. Ein Abend für Frau und Mann.

Drei Abende zum Frausein

In der Wydekantine in Dornach finden am 2., 3. und 4. Februar drei Abende zu Frauenthemen statt. Den Auftakt macht am 2. Februar um 20.15 Uhr Cornelia Kazis mit ihrem Buch «Weiterleben, weitergehen, weiterlieben. Wegweisendes für Witwen.» Am 3. Februar um 20.15 Uhr hält Prof. Daniel Haag-Wackernagel seinen Vortrag über die Abwertung der äusseren weiblichen Genitalien gestern und heute. Und vieles mehr über das Zentrum der weiblichen Lust. Den Abschluss macht am 4. Februar ebenfalls um 20.15 Uhr die Feuilleton-Chefin der FAZ, Sandra Kegel. Sie zeigt in ihrem Buch, dass Frauen anders schreiben. wydekantine.ch

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