Wo heute Schüler lernen, gossen Arbeiter Buchstaben

1992 zog die Rudolf Steiner Schule an die Gutenbergstrasse 1. Die Adresse hat eine bewegte Vorgeschichte.

Einzigartig: Das Gebäude an der Gutenbergstrasse 1 sticht dem vorbeischlendernden Passanten ins Auge. Foto: Caspar Reimer
Einzigartig: Das Gebäude an der Gutenbergstrasse 1 sticht dem vorbeischlendernden Passanten ins Auge. Foto: Caspar Reimer

Dreissig Jahre ist es her, seit die Rudolf Steiner Schule Münchenstein in das Gebäude an der Gutenbergstrasse 1 eingezogen ist und obwohl sich deren Geist schon längst in den Zimmern und Korridoren eingenistet hat, kann nichts ­darüber hinwegtäuschen, dass es sich ­keineswegs um ein gewöhnliches Schul­gebäude handelt: Die Anlage, die im Inventar der geschützten Kulturdenkmäler des Kantons Basel-Landschaft aufgelistet ist, war nach ihrem Bau 1921 bis ins Jahr 1989 das Zuhause der Haas’schen Schriftgiesserei und damit Zeugin einer bewegten Geschichte, die uns heute noch unmerklich berührt, etwa dann, wenn wir vor dem Computer sitzen und die Schriften Clarendon und Helvetica verwenden, deren typografische Gestaltung auf die Haas’sche Schriftgiesserei zurückgeht.

Europaweit führend

Bis ins Jahr 1450 wurden Bücher von Hand geschrieben und vervielfältigt. Erst Johannes Gutenbergs Buchdruck revolutionierte die Herstellung und Verbreitung von Medien mit beweglichen Metalllettern. Die Region Basel war von Beginn weg mit dabei, gehörte zu den europäischen Zentren des Buchdrucks. So führte die Familie Genath in Basel eine Druckerei mit eigener Schriftgiesserei, die nach drei Generationen im Jahr 1740 von Johann Wilhelm Haas übernommen wurde und den Betrieb in seinem Namen leitete.

Das Unternehmen entwickelte stets neuere Verfahren, wie etwa eine verbesserte Handpresse aus Metall, und wurde so zur führenden Schriftgiesserei in der ganzen Schweiz und einer der bedeutendsten in Europa. Zwar wurde die Firma Mitte des 19. Jahrhunderts an andere Besitzer verkauft, blieb jedoch weiter erfolgreich, weshalb die Räumlichkeiten in der Stadt nicht mehr ausreichten. Der Architekt Karl Gottlieb Koller konstruierte ein auf die internen Abläufe der Firma zugeschnittenes Gebäude für den Standort in Münchenstein, wo das Unternehmen in den 1960er-Jahren mit rund 120 Angestellten seine Hochzeit erlebte. In diese Zeit geht auch die Produktion von Schrifttypen, die teils noch heute weltbekannt sind, zurück.

Klösterliche Erscheinung

Dem Bau an der Gutenbergstrasse kommt aber nicht nur aus typografischer, sondern auch architektonischer Sicht grosse Bedeutung zu: Der Architekt, der sich zuvor einen Ruf mit grossen Hotelanlagen im Engadin geschaffen hatte, entwarf den Bau entgegen der rationalen und rein zweckmässigen Art der Industrialisierung – die Anlage überrasche mit einer «fast klösterlichen Erscheinung», ist in Architekturzeitschriften zu lesen. Das zweigeschossige Fabrikgebäude besteht aus um einen rechteckigen Hof angeordnete Einzelhäuschen mit halbkreisförmigen Dachgewölben. In Zeiten der Schriftgiesserei fügten sich die fünf Häuschen pro Hofseite im Inneren zu einer fast durchgängigen Produktionshalle zusammen. In den Dachzwickeln sind Fenster eingelassen, die Tageslicht gewähren, was eine notwendige Bedingung für die millimetergenaue Arbeit der Schriftgiesser war, denn für ein angenehmes Schriftbild müssen alle Buchstaben exakt gleiche Höhen und Seitenabstände haben.

Vorbildliche Umnutzung

Nachdem die Schriftgiesserei ihren Betrieb eingestellt hatte, da Maschinen und später Computer den Berufsstand nahezu überflüssig machten, zog 1992 die Rudolf Steiner Schule ein, denn die modulartig aufgebaute Anlage kam deren Bedürfnissen sehr entgegen. Der grosse Innenhof, der früher als Treffpunkt für die Arbeiter diente, verleiht der Schule heute einen ganz besonderen Charme, wie die Schule auf ihrer Internetseite schreibt.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, welcher der Gutenbergstrasse 1 Bedeutung verleiht, wie der Kanton Basel-Landschaft in seiner Würdigung schreibt: «Die Umnutzung der ehemaligen Schriftgiesserei ist beispielhaft und wirkt für weitere Umnutzungen von verlassenen Fabrikarealen vorbildlich.» Ein Thema, das auch heute noch aktuell ist.

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