«Mut zum eigenen Schicksal»

Mit «Die Schicksalsweberei» hat die Dornacherin Evelyn Reimann letztes Jahr ihren ersten Roman veröffentlicht. Reimann ist auch durch ihre Hochsensibilität in den Medien präsent. Das «Wochenblatt» hat sich mit ihr über ihr Buch unterhalten.

Auf dem Dornacher Hügel: Die Autorin Evelyn Reimann.  Foto: Edmondo Savoldelli
Auf dem Dornacher Hügel: Die Autorin Evelyn Reimann. Foto: Edmondo Savoldelli

Edmondo Savoldelli

Wochenblatt: Frau Reimann, Sie haben den Treffpunkt für unser Gespräch ausgewählt. Warum hier im Goetheanum?
Evelyn Reimann: Das internationale, künstlerische und spirituelle Umfeld hier entspricht mir und inspiriert mich. Ausserdem wohne ich auf dem Dornacher Hügel.

Sie sind gebürtig aus dem Kanton Aargau. Was führte Sie in diese Gegend?

Evelyn Reimann:
Ich war in vielen Bereichen tätig, journalistisch, künstlerisch und im Sozialen. Da ich viele Interessen habe, führten mich die anthroposophische Medizin an der damaligen Ita Wegman Klinik und das Studienjahr am Goetheanum vor acht Jahren hierher. Aber dem Aargauischen Fricktal fühle ich mich nach wie vor nahe, so auch anderen Stationen in meinem Leben wie Berlin, Jerusalem, Holland und Brasilien. Einige dieser Orte kommen auch im Buch vor.

Ihr Buch hat offensichtlich autobiografischen Charakter. Sie sind Alma. Wie genau ist dieses Autobiografische? Sind die geschilderten Erfahrungen authentisch? Wo haben Sie «dazugedichtet»?
Evelyn Reimann: Die meisten Passagen habe ich in irgendeiner Form erlebt, auch wenn es oft bildhaft daherkommt. Vorbild waren mir auch die mythologischen Heldenreisen, wo jemand in der Auseinandersetzung mit der Nachtseite des Lebens dieser das Positive abringt und so als stärkere, reifere Persönlichkeit weitergeht. Trotz der Tiefgründigkeit der Themen geht es im Roman aber durchaus humorvoll zu und her.

Es gibt im Buch verschiedene Romanfiguren. Menschen des Hier und Jetzt, innere Stimmen, Naturwesen und Seelengestalten. Das erste Seelenwesen, dem Sie begegnen, heisst Aval. Können Sie an ihrem Beispiel darstellen, wie Sie dazu kamen? Ist Aval eine Erfahrung, die über ein Phantasieprodukt hinausgeht?

Evelyn Reimann: Aval war eine Begegnung mit der inneren Stimme oder der eigenen Schicksalskraft. Diese innere Erfahrung geschieht oft in Umbruchsituationen, wenn vieles im Äussern wegfällt und vielleicht an deren Stelle etwas Wesentliches auftaucht. Phantasieprodukte gibt es im Roman deswegen nicht, weil alle Figuren einen Bezug zu dieser Realität hier haben wie zum Beispiel C. G. Jungs Archetypen.

Sie schildern auch Erlebnisse, bei denen sich die gegenständliche Welt aufzulösen scheint. Sie stecken Ihren Kopf durch Wände, Bäumen wachsen Tentakel oder der Dom schwankt mit den Türmen. Haben Sie Drogen genommen?
Evelyn Reimann: Meine Bilder entstammen nicht der Drogenwelt. Bestimmte Phänomene sind von Nahtoderlebnissen oder ausserkörperlichen Erfahrungen her bekannt. Auch Meditation, Krisen oder schockartige Erlebnisse können die Grenzen der Sinneswelt bei klarem Bewusstsein erweitern. Viele Menschen heute machen solche Erfahrungen, auch wenn sie nicht darüber sprechen, oder nur mit ihnen Vertrauten. Diese Erfahrungen sind seit je in der Menschheitsgeschichte bekannt. Ich beschäftige mich mit Mythologie, Religion, Psychologie und Philosophie. Was ich schreibe, hat Hand und Fuss, ich schöpfe sowohl aus eigener Erfahrung wie aus einem Wissenshintergrund.

Zu Beginn des Buches schlägt ein Psychologe Alma vor, zur Therapie ein Buch zu schreiben. Hat das gewirkt?
Evelyn Reimann: Therapie hatte für mich immer einen gekünstelten Charakter und daher keine Wirkung, es sei denn, es geschah eine echte Begegnung über das Therapeutische hinaus, authentisch von Mensch zu Mensch. «Die Schicksalsweberei» habe ich absichtslos geschrieben, einfach weil ich es liebte zu schreiben, weil eine Kraft da war, und ich fühlte: Das ist mein Schicksal. Der Roman floss mir regelrecht aus den Fingern. Woher die Ideen kamen, weiss ich nicht. Es ist wie ein Wunder. Es war kein therapeutischer Vorgang, bei dem man sich etwas von der Seele schreibt. Natürlich ist das auch wichtig, aber diese Arbeit habe ich vorher schon verrichtet: Seit meinem 6. Lebensjahr schreibe ich täglich Tagebuch. Auch ein akribisch genaues Schreibhandwerk ist nötig. Dieses erwarb ich mir in der Arbeit als Journalistin bei diversen Zeitungen. Das Buchschreiben an sich war ein künstlerischer Prozess. Ein Künstler sehnt sich nach etwas, was sein eigenes kleines Wesen übersteigt. Der Schreibprozess gleicht einem Atmungsvorgang zwischen ihm und der Welt, bei dem es im Grunde gar nicht um ihn selbst geht.       
Auch wenn mein Leben sich gut eignet, einen Roman der literarischen Gattung «Entwicklungsroman» zu schreiben, so erkennen sich viele Menschen in dieser Geschichte wieder, wie das Feedback aufs Buch zeigte.

Mir scheint, Sie sind ein eher scheuer, zurückhaltender Mensch. Wir ergeht es Ihnen dabei, mit Ihrem Roman so in die Öffentlichkeit gestellt zu sein?
Evelyn Reimann: Es kostet Mut, Mut zum eigenen Schicksal. Und immer die selbstkritische Frage: Wozu tust du es eigentlich? Aber ein Buch ist ein eigenständiges Wesen. Ich schulde es ihm, Wegbereiter ins Leben zu sein. Ausserdem hungert es mich nach Begegnung mit Mensch und Schicksal. Da ich Einsamkeit und Isolation ausgiebig erlebt habe, weiss ich den Wert echter Begegnungen zu schätzen.

Gibt es bald einen neuen Roman von Evelyn Reimann zu lesen?
Evelyn Reimann: Ich bin mitten drin in der Arbeit an einem zweiten Roman. Aber über ein noch nicht entbundenes (Buch-)Baby spricht man nicht. Nur so viel: Es geht um Leben und Tod.

 

Evelyn Reimann: «Die Schicksalsweberei» (Rezension)
Die Autorin Evelyn Reimann ist 1979 im Fricktal AG geboren. Sie studierte Politikwissenschaften, Theologie, Philosophie/Anthroposophie und arbeitete unter anderem als freie Journalistin bei der «Aargauer Zeitung», als Model, als Show-Animateurin auf Rhodos, mit drogenabhängigen Jugendlichen in Berlin und in einem Aids-Hospiz in Brasilien. Sie spricht zehn Sprachen und spielt Harfe, Cello und Flöte. Neben dem Schreiben komponiert sie Musikstücke und Lieder für Harfe und Gesang. Reimann ist in letzter Zeit auch bekannt geworden durch ihren Auftritt im Fernsehen am 21. Mai bei «Aeschbacher» und einen Beitrag über sie im «Beobachter». TV-Sendung und Artikel widmeten sich dem Thema der Hochsensibilität.

Zwischen Luzidität und Verzweiflung
Intimen Einblick in das Seelenleben einer Hochsensiblen gewährt Evelyn Reimann durch ihren ersten Roman «Die Schicksalsweberei». Ausgehend vom Wunsch nach psychiatrischer Klassifikation ihrer Seelenzustände begibt sich Alma, ihre Protagonistin, durchs Romanschreiben auf eine innere Reise, die sie an Orte führt, welche Normalsterblichen im Wachzustand selten zugänglich sind. Angesicht ihrer seelischen Nöte, sich in dieser Sinnen-Welt, die ihr als Zwischenwelt zwischen der vorgeburtlichen und der nachtodlichen Ewigkeit erscheint, heimisch zu fühlen und gepeinigt durch ihr Nervenkostüm, durchschreitet Alma mit ihrer Sehnsucht, sich mit ihrem Schicksal zu versöhnen, eine magisch-mythische Welt, in welcher die Gegenstände wesenhaft sind und die Vorgänge und Personen auf geheimnisvolle Weise mit ihren inneren Erlebnissen korrespondieren. Bisweilen lösen sich Zeiten, Räume und logische Strukturen komplett auf und gehen über in Zustände, für welche kaum mehr Worte zu finden sind. In der ganzen Tortur der inneren Pein bleibt Alma ihren Seelenvorgängen gegenüber jedoch wach beobachtend und experimentierfreudig. Das schafft Platz für einen tiefgründigen Humor und hebt – neben der Qualität und Originalität der Sprache, der reichen Metaphorik, der weisheitsvollen philosophischen Einschübe und der kompositorischen Mittel – diesen Text weit über ein neurotisches «Sich-von-der Seele-Schreiben» hinaus und macht ihn zur anspruchsvollen, transformativen Literatur, welcher der Begriff «Entwicklungsroman» gut ansteht. Wie sagt doch die Selbstmörderin Gretel, welche bei Frau Holle arbeitet? «Es gibt keinen andern Weg als den eigenen ...»

Evelyn Reimann: Die Schicksalsweberei. Verlag Johannes Petri, Basel 2014. ISBN 978-3-03784-038-2. Der Titel ist auch als E-Book erhältlich.

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