Bilder vom Kern des Seienden

Unter dem Titel «Concentric Circles» präsentiert die Schweizer Künstlerin Heikedine Günther bis zum 30. September im Goetheanum ihre neusten, im Lockdown entstandenen Werke. Eine sehenswerte Ausstellung.

Ewigkeit und Zeit, Statik und Bewegung, Kunst und Mensch: Heikedine Günthers Kreisbilder im Foyer des Grundsteinsaals. Foto: Thomas Brunnschweiler
Ewigkeit und Zeit, Statik und Bewegung, Kunst und Mensch: Heikedine Günthers Kreisbilder im Foyer des Grundsteinsaals. Foto: Thomas Brunnschweiler

Bereits im Foyer des Grundsteinsaales sehen sich die Besucher mit grossen hochformatigen Ölbildern konfrontiert, die alle den Titel «Core» (Kern) und eine Nummer tragen. Die länglichen unregelmässigen Formen lassen nicht das Gefühl der Monotonie aufkommen. Jedes Bild ist einmalig. Diese Kerne scheinen zu leben, zu vibrieren, ja zu pulsieren. Nicht umsonst bezeichnet das arabische Wort «lubb» für Kern auch das Mark, das Herz, den Geist und den Verstand. Obwohl der Kern ein archetypisches Symbol ist, findet sich in einschlägigen Symbol-Lexika das Lemma «Kern» nicht. Der Kern ist nicht identisch mit dem Kreissymbol, kann verschiedene Formen annehmen. Der Erdkern ist kugelförmig, der Atomkern ist diffus, Nuss- und Obstkerne haben unterschiedliche Ausformungen. Schliesslich sind Dorf- und Stadtkerne historisch gewachsen. Aber stets steckt in der Suche nach dem Kern «die Sehnsucht nach dem Wesentlichen», nach dem Essenziellen. Dieses ist all das, was ein Ding oder eine Person ausmacht. Den ersten abstrakten «Kern» malte Heikedine Günther 2004, ein Schlüsselmoment in ihrem Leben. Seitdem folgen die Titel der Kernbilder den fortlaufenden Katalognummern. In der archetypischen Form des Kerns verbinden sich mikrokosmische und makrokosmische Zusammenhänge wie in der Miniatur «Gott, Kosmos und Mensch» in Hildegard von Bingens «Liber Scivias». Ob Zellkern oder aktiver Galaxienkern – das Prinzip ist stets dasselbe. Die Künstlerin bildet aber nicht einfach einen virtuellen Kern ab, sondern lädt das Publikum ein, sich im Vollzug der Betrachtung selbst in ihrem inneren Selbst zu verankern. Heikedine Günthers Bilder taugen nicht zur Ablenkung, Zerstreuung oder gar zur Dekoration. Sie fordern Meditation und Kontemplation ein, und dies in einer immer ­unübersichtlicher und komplexer ­werdenden Welt. Günther hat sich jahrelang mit dem Kernsymbol beschäftigt und sich mit historischen Kunstpraktiken wie auch interkulturellen Symbolen auseinandergesetzt.

Faszination konzentrischer Kreise

Der Kreis ist Symbol für Einheit, das Absolute, Vollkommene und damit Göttliche. Bei Heikedine Günther ergeben sich die Kreise durch schwingende Bewegungen von Hüfte und Schulter auf einer waagerecht liegenden Leinwand. Man denkt unwillkürlich an Zenkreise, die auch aus einer Bewegung heraus entstehen. Jedes Bild beginnt mit einer goldgrundierten Leinwand. Die Künstlerin verwendet drei bis sieben Farbschichten, sodass auch die Kreisbilder zu leben scheinen und wie die «Kerne» eine Aura besitzen. Die 1966 im ländlichen Westfalen geborene Künstlerin lernte bereits mit 16 Jahren Joseph Beuys kennen. ­Diese Begegnung war ihr künstlerisches Schlüsselerlebnis. Es öffnete ihr den radikalen Zugang zur Kunst. Nach Schulabschluss folgte ein Kunststudium in New York und eines an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Heikedine Günther studierte auch bei Martin Kippenberger in Kassel, der an der Demontage des traditionellen Kunstbegriffs arbeitete. Mitte der 1990er-Jahre zog die Künstlerin nach Berlin. Seit 2008 lebt sie in Basel und Stalden (VS).

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