Ein Wal im Wohnzimmer, ein Albtraum im Bauch

In ihrem Prosadebüt «Walwerdung» leuchtet die Arlesheimer Autorin Iris Keller das Lebensereignis Geburt radikal aus – Schattenseiten eingeschlossen.

Hat ein starkes Stück Befreiungsliteratur geschrieben: Die Schriftstellerin Iris Keller lebt in Arlesheim. Foto: Miklós Klaus Rózsa
Hat ein starkes Stück Befreiungsliteratur geschrieben: Die Schriftstellerin Iris Keller lebt in Arlesheim. Foto: Miklós Klaus Rózsa

Manchmal prägt schon der erste Eindruck eines Buches das Leseerlebnis. «Walwerdung», der Debütroman von Iris Keller, ist ein solches Buch. Das schlichte Cover zeigt eine Walflosse vor einer Stadtlandschaft, der Binnen-Stabreim im Titel deutet auf das Grundsätzliche und Umfassende dieses Romans über eine Schwangerschaft.

Die tagebuchartigen Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin und die kurzen Alltagsdialoge mit ihrem Partner ergeben ein drastisches Bild: Sie im Schlafzimmer, gefangen in der Situation als Mutter; das schreiende Kind, unerreichbar; dazwischen ein gigantischer Walkörper im Wohnzimmer.

Vom Roman zur Bühne

Iris Keller, 1988 in Ulm geboren, lebt als freischaffende Künstlerin in Arlesheim. Sie arbeitet in der freien Theaterszene als Regisseurin und Performerin und ist Theaterautorin und Kulturvermittlerin, zum Beispiel im Literaturprogramm für Kinder der GGG-Stadtbibliothek Basel.

2022 bis 2023 erhielt sie das Stipendium Double Literatur von Migros-Kulturprozent. Ihre Mentorin war die Verlegerin und Autorin Bettina Spoerri. In deren Geparden Verlag ist Kellers Debütroman nun auch erschienen.

Im Oktober 2023 bekam Keller eine Recherche-Residenz im Theater Roxy in Birsfelden. Dort entstand ihr Musiktheater «Walwerdung», das sie im März 2026 im Gare du Nord uraufführt und performt.

Der Roman «Walwerdung» handelt von einer Geburt und dem Zurechtfinden danach. Die introspektive, feministische Ich-Erzählerin ist Mitte dreissig und freiberufliche Journalistin. Sie ist ambitioniert und recherchiert gründlich. Ihr Partner, auch er ein Freiberuflicher, zeichnet Baupläne. Die beiden leben das Prinzip fifty-fifty in allem und sind gut miteinander unterwegs, auch in der Liebe. Als das kleine Geschöpf in ihrem Bauch – den die Hauptfigur als blubbernde, feuchtwarme, dunkle Masse beschreibt – heranwächst, verändert das alles. Es ist, als wüchsen Kind und werdende Mutter in der Meereswelt der Wale zusammen. Der Wal, gefährdetes Säugetier und Urgeschöpf in einer unvorstellbar langen Evolution durch Wasser, Luft und Land.

Hinter der Plexiglasscheibe

Und dann passiert die Geburt. In Kellers Roman ist sie nicht die ersehnte Verwandlung und grosse Seligkeit, sondern eine brutale Zäsur. Sie lässt den weiblichen Körper aufgeschnitten, aufgerissen und ausgeblutet zurück, den Vater ratlos und das Neugeborene hinter der Plexiglasscheibe.

Später wird sich das kleine Glück zwar einstellen. Aber zunächst ist da eine schlaffe Jungmutter mit wunden, tropfenden Brüsten, die nur noch wie eine Maschine funktioniert; ein Schrei-Kind, das nicht einmal richtig schlucken kann; und genervte Diskussionen ums Staubsaugen und Feierabendbier. Freudlos, leblos, tot.

In diesem Vakuum beginnt die Erzählerin Gespräche mit Mit-Schwestern: mit Rachel Carson, der US-amerikanischen Meeresbiologin und «Urmutter des Umweltschutzes», mit der Fantasiefigur Neri aus der 1990er-TV-Serie «Ocean Girl» und mit ihrer verstorbenen Grossmutter. Und dann, zuletzt: «Wir im Meer. Das Wasser wird um uns sein, in uns und wir werden spüren, wie alles verbunden ist, wie alles fliesst, wie wir leben.»

«Walwerdung» ist ein starkes Stück Befreiungsliteratur. Die Autorin räumt mit geschönten Vorstellungen vom Mutterwerden auf. Drastisch, heftig, kompromisslos. Kellers Roman hält uns vor Augen, wie klein und unbedeutend wir im Grunde sind in diesem grossen, schützenswerten Ganzen.

Iris Keller: «Walwerdung», Roman. 230 Seiten. Geparden Verlag. Premiere im Gare du Nord am 19. März 2026.

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