Boxenstopp beim Männermediziner Marco Caimi
Am 14. März spricht der Arzt und Autor Marco Caimi im Pfarrhaus im Rahmen der offenen Männergruppe Reinach über «Mannzipation», Männermedizin und das neue Bild des Mannes. Das «Wochenblatt» hat mit ihm gesprochen.

Thomas Brunnschweiler
Wochenblatt: Sie sind Spezialarzt für physikalische Medizin und Rehabilitation und werden oft mit der Realität von Männern zuerst auf der physischen Ebene konfrontiert. Was stellen Sie konkret fest?
Marco Caimi: Erstens kommen Männer viel später und damit auch seltener zum Arzt. Zweitens ist nicht immer die schmerzende Schulter oder der zwickende Rücken der wahre Grund, sondern nur ein Teil eines Puzzles, welches man ganz banal als Überlastung beschreiben könnte. Schöpfen dann die Herren der Schöpfung Vertrauen, beginnen sie auch über das Andere zu sprechen.
Wochenblatt: Irgendwie scheint den Männern die Emanzipation der Frau über den Kopf gewachsen zu sein. Sie sprechen ja darum von «Mannzipation». Was verstehen Sie darunter?
Marco Caimi: Natürliches und entspanntes Mannsein, was wir schlicht verlernt haben zu leben. Wir versuchen, Mann und Frau krampfhaft zu nivellieren. Die Natur hat aber für die allermeisten Spezies nicht zufällig zwei Geschlechter geschaffen, die unterschiedlich sind, weil sie sich anziehen sollen, ja müssen, weil sonst die Spezies ausstirbt. Dies hat nichts mit den gesellschaftlichen und rechtlichen Aspekten der menschlichen Geschlechter zu tun. Deren Gleichstellung war wohl das grösste Verdienst der Emanzipation. Leider hinken gewisse Kulturen und nicht wenige Religionen noch erheblich hinterher.
Wochenblatt: Sie behaupten, der Mann habe in den letzten Jahrzehnten zusehends seine physische, psychische und sexuelle Kraft eingebüsst. Wie begründen Sie diese Aussage? Steht sie nicht im Widerspruch zum Männerbild, das uns als Vorbild präsentiert wird, etwa in den Filmen aus Hollywood?
Marco Caimi: Was uns medial oder cinematographisch suggeriert wird, hat nichts mir der Realität zu tun, sondern gilt dem neuen Erwecken von archaischen Sehnsüchten. Die Marlboro-Männer und der Camel-Typ sind doch schon beinahe Kultfiguren geworden, ein letztes Reservat Männlichkeit in einer Welt, in der Männer krampfhaft versuchen, zu Frauenverstehern zu mutieren, ihren Partnerinnen alles recht machen wollen und nicht merken, dass sie selbst dadurch immer unattraktiver werden. Clooney und Banderas, um bei Hollywood zu bleiben, würden ihre Frauen nie fragen, was sie an ihrem Geburtstag vielleicht und unter Umständen machen wollen – Clooney und Banderas ziehen das Programm gleich selbst durch!
Wochenblatt: In einem Interview sagen Sie, die Zeitkultur habe den Simultanten hervorgebracht, den Menschen also, der Dinge gleichzeitig tut und ständig erreichbar sein muss. Warum ist dies für Sie eine Gefahr?
Marco Caimi: Weil Freizeit und Arbeit komplett verschmelzen und damit das wichtigste Grundgesetz des Lebens nicht mehr respektiert wird: die Polarität! Auf Spannung folgt Entspannung, auf Schlaf Wachsein, auf Flut Ebbe, auf Sommer Winter. Sonst kann man die Batterien nicht mehr laden und es ist kein Wunder, dass dadurch die Burnout-Industrie floriert. Genau in diesem Moment erlebe ich dies selbst: Sitze in Südafrika in meinen wohlverdienten Ferien und stehe früher auf, um diese Antworten rund um den Erdball zu schicken. Nicht gerade das, was in meinen Fachbüchern steht ...
Wochenblatt: Können Sie ausführen, weshalb Sexualität in der männlichen Selbstwahrnehmung für viele ein Problem ist?
Marco Caimi: Erstens ist Sexualität etwas vom Schönsten, was uns die Natur geschenkt hat; aber wir tabuisieren sie, bereits im Kindesalter. Wie viele Morde hat ein Kind bis zur Adoleszenz schon gesehen und wie viele sinnliche Akte? Genau so, wie es mittlerweile frauenfreundliche Pornos gibt, könnte es auch kinderfreundliche Sexfilme geben. Anders gefragt: Was ist schlimmer: eine verstümmelte Leiche oder ein erigierter Penis? In der Realität aber werden Kinder teilweise noch fürs Masturbieren bestraft. Zudem setzen sich viele Männer einem regelrechten Orgasmuszwang aus, aber nicht mehr bei sich selbst, sondern bei ihren Partnerinnen, dass sie darob ihre eigene Lust vergessen und eigene Bedürfnisse gar nicht erst formulieren. Lieber gleich woanders holen, zum Beispiel bei Prostituierten. Dort herrschen noch die Gesetze des Tauschhandels. Die wenigsten Freier sind übrigens solo. Hinzu kommt die Cybersexualität mit den omnipräsenten Abbildungen von Superweibern und Superhengsten. Da werden Erwartungen geschürt, die die Realität (zum Glück) nicht bieten kann. Schon haben wir eine sexuelle kognitive Dissonanz. Bei häufiger Anwendung folgen Frustration oder Rückzug – zum Beispiel wieder in diese Cyberwelt oder in die Prostitution. Ein Teufelskreis.
Vortrag «Boxenstopp beim Männermediziner», 14. März 2012, 19.30 Uhr, Kirchgemeindehaus Mischeli.