Von Lebensmut und Lebensfreude
Seraina Baumgartner lebt im Wohn- und Bürozentrum für Körperbehinderte (WBZ), das in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiert. Die aufgeweckte Frau schätzt die Autonomie und die Möglichkeit, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen.

Seraina Baumgartner erzählt gerne und viel. Etwa darüber, wie es war, als sie vor 16 Jahren frisch ins Wohn- und Bürozentrum für Körperbehinderte (WBZ) kam: «Das WBZ ist sehr gross, riesig. Als ich am ersten Tag die Tür passierte, wollte ich am liebsten gleich rückwärts wieder raus.» Für sie, deren räumliche Wahrnehmung und damit auch der Orientierungssinn wegen einer Zerebralparese beeinträchtigt sind, kam es einer Herausforderung gleich, sich in den vielen Zimmern, Sälen, Korridoren und Winkeln zurechtzufinden. «Ich brauchte rund ein Jahr, bis ich mich einigermassen eingelebt hatte.» Dafür fiel es ihr leicht, Kontakte mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern zu knüpfen – angesichts ihrer offenen, zugewandten Art verwundert das nicht: «Natürlich brauchte es einen Moment Zeit. Wenn man in ein schon Jahre bestehendes Gefüge von Menschen kommt, haben zuerst nicht alle Freude. Man weiss schliesslich anfangs nicht, wie jemand tickt. Aber die Kolleginnen und Kollegen merkten schnell, dass man sich mit mir gut unterhalten kann.»
Baumgartners Zerebralparese liegt einer Hirnblutung drei Tage nach ihrer Geburt zugrunde. «Bei mir hat dies vor allem körperliche Auswirkungen, ich kann also nicht laufen und habe Mühe, gewisse Körperteile zu kontrollieren.» Zwar ist sie oft allein unterwegs, doch musste sie sich einen gewissen Orientierungssinn antrainieren.
Eine eigener Briefkasten
Jeden Morgen vor der Arbeit benötigt Baumgartner in ihrer mit vielen Bildern, Karten und Postern versehenen Wohnung eine Stunde Begleitung und Pflege, ansonsten bewältigt sie ihren Alltag zu einem grossen Teil selbstständig. «Bevor ich ins WBZ kam, lebte ich in Wohngruppen. Mir war es aber wichtig, als erwachsene Person eigenständig zu sein, was im WBZ weitgehend möglich ist.» Ihr Zimmer, dessen Einrichtung von Lebenslust und vielen Unternehmungen erzählt, ist ihr Privatreich, ihre eigene Wohnung. «Ich habe im WBZ auch einen eigenen Briefkasten und eine eigene Klingel.» Ein- oder zweimal monatlich besucht Baumgartner ihre Eltern, die in der Nähe von Zürich wohnen: «Ich fahre jeweils selbst mit dem ÖV hin. Am Sonntag bringen mich meine Eltern mit dem Auto zurück, damit ich nicht so früh gehen muss.» Sie dankt ihnen, nicht überbehütet worden zu sein: «Sie haben mich immer unterstützt, aber liessen mich auch selbstständig werden.»
Die 37-Jährige ist aufgeweckt und interessiert, nimmt wahr, welche Veränderungen über die Jahre im WBZ vor sich gegangen sind: «Man spürt heute den finanziellen Druck, der zum Beispiel auf der Begleitung und der Pflege lastet. Jede einzelne Leistung muss dokumentiert werden, damit etwa die Krankenkasse oder die IV zahlt.» Sie, die ihre Finanzen weitgehend selbst regelt, weiss, mit wieviel Aufwand Buchhaltung verbunden sein kann. «Ich versuche dann aber, es zu verstehen, und lasse den Kopf nicht hängen.» Anfangs arbeitete Baumgartner im Büro und erfasste Kundendaten. Seit rund zwei Jahren ist sie aber im Kreativatelier, wo sie etwa Katzen aus Pappmaché mit Herzchen bemalt. «Das Kreative macht mir Freude, weil ich das Resultat meiner Arbeit sehe», sagt Baumgartner.
Im Kreativatelier wurde vor einiger Zeit das Projekt «Kunststück» ins Leben gerufen: «Dort wird dann wirklich Kunst hergestellt, also etwa gemalt, eine Skulptur oder ein Text erarbeitet», erzählt sie. In diesem Rahmen hat Baumgartner zuletzt ein Kunstwerk mit dem Titel «Reinacher Aquarium», das an der jährlichen Ausstellung des Kreativateliers im November zu sehen sein wird, hergestellt. «Der Schreiner hat den Rahmen so gestaltet, dass es den Anschein macht, als sei man in einem Aquarium.»
Tag der offenen Tür
Am kommenden Samstag feiert das WBZ sein 50-jähriges Bestehen unter dem Motto «50 Jahre sozial engagiert» mit einem Tag der offenen Tür. «Im Kreativatelier können Besucherinnen und Besucher etwa erleben, wie es ist, mit einer körperlichen Einschränkung zu kleistern», erzählt Baumgartner. Man wolle den Menschen einen Einblick in den Alltag des WBZ verschaffen. «In allen Abteilungen gibt es etwas, bei dem man als Besucher selbst mitmachen kann», erzählt sie. Neben Ausstellungen, Führungen und Mitmachaktionen gibt es – wie es sich für ein Fest gehört – ein reiches kulinarisches Angebot und Musik.
Tag der offenen Tür: Samstag, 13. Sept., 10 bis 18 Uhr, www.wbz.ch