Rudolf Steiners Gesamtwerk wurde verewigt
Die seit 1961 erscheinende Rudolf Steiner Gesamt-ausgabe steht kurz vor dem Abschluss. Über 400 Bände des Gründers der Anthroposophie hat die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung herausgegeben.

«Angesichts all der Veranstaltungen zu Rudolf Steiners 100. Todestag droht die Tatsache, dass die seit 1961 herausgegebene Rudolf Steiner Gesamtausgabe mit über 400 Bänden kurz vor dem Abschluss steht, etwas unterzugehen», sagt der Ökonom und Philosoph Philip Kovce, der im April dieses Jahres gemeinsam mit Angelika Schmitt als Nachfolge von David Marc Hoffmann die Leitung des Rudolf Steiner Archivs in Dornach übernommen hat. Es handle sich «um eine der grössten Werkausgaben der Geistesgeschichte». Rudolf Steiner habe in seinem Leben zwar auch Bücher geschrieben, vor allem aber viele Vorträge gehalten, führt Kovce weiter aus: «Seine Zeitgenossen haben ihn mehr als Redner, weniger als Schreiber wahrgenommen.»
In Zahlen ausgedrückt: An die 30 Bücher stehen rund 6000 Vorträgen gegenüber. Schon zu Steiners Lebzeiten wurden Vorträge verschriftlicht und publiziert. Der grösste Teil der Gesamtausgabe sei eine eigentümliche Gattung, ein «Werk ohne Autor» – nämlich von Steiner nicht durchgesehene Vortragsmitschriften. «Steiner hat seine Vorträge nicht aufgeschrieben. Er hat der freien Rede einen hohen Stellenwert beigemessen, um für Geistesblitze offen zu sein», sagt Kovce. Von Steiners frühen Reden wisse man teilweise nicht, wer diese aufgeschrieben habe, teilweise handle es sich gar um Erinnerungsprotokolle oder um Rezeptionen, die ein Journalist oder Redaktor geschrieben habe. «Später schrieben professionelle Stenografen Steiners Reden mit. Hier ist vor allem Helene Finckh zu erwähnen, die an die 2000 Vorträge mitstenografiert hat und somit eine Art Co-Autorin der Gesamtausgabe ist», so der Archivleiter.
Schriften, Vorträge,künstlerisches Werk
Die erste Herausgeberin von Steiners Werken war seine zweite Ehefrau, Marie Steiner. Als ihr Mann 1902 in Berlin Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft wurde, begann sie, seine Publikationen zu managen. Es war nach dem Tod ihres Mannes 1925 ihr Anliegen, dass sein Werk in einer Gesamtausgabe zusammengefasst wird. «Marie Steiner ist, so gesehen, die Stifterin der Gesamtausgabe», sagt Kovce.
Während Jahrzehnten wurde unter Anthroposophen darüber diskutiert, wie eine Gesamtausgabe Steiners denn aussehen sollte. 1961 legte Hella Wiesberger, nach dem Tod Marie Steiners 1948 eine federführende Mitarbeiterin der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, einen «detaillierten Editionsplan für die Gesamtausgabe vor, der im Wesentlichen bis heute gilt», so Kovce. Die grobe Gliederung der Gesamtausgabe in Schriften, Vorträge und künstlerisches Werk entstammt auch Wiesbergers Editionsplan. Sie sei, so Kovce, «die Architektin der Gesamtausgabe».
Vorlegen, nicht bewerten
Steiner ist, wie ausreichend bekannt, nicht unumstritten – seit Jahrzehnten werden seine Auffassungen über Rassen und Judentum kritisiert. Im Jahr 2007 etwa reichte in Deutschland das Bundesfamilienministerium wegen «Rassen diskriminierender Aussagen» einen Antrag auf Indizierung zweier Steiner’scher Werke bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ein.
Steiner war aber auch ein Kind seiner Zeit – die Praxis, Menschengruppen über biologische Merkmale zu definieren, war damals unter Intellektuellen und in der Wissenschaft verbreitet. «Alle Steine des Anstosses sind in der Gesamtausgabe zu finden», sagt Kovce. Und er fügt hinzu: «Wir legen Steiner nicht aus, sondern vor. Wir stellen das Werk der Öffentlichkeit zur Verfügung, damit darüber diskutiert werden kann.»
Noch nicht ganz abgeschlossen sind die Editionen von Steiners Briefen und Notizen. «Die Notizen werden nur digital publiziert, weil deren Umfang jedes Bücherregal sprengen würde.» Zudem soll im kommenden Jahr noch ein Handbuch zur Gesamtausgabe veröffentlicht werden. Die Realisierung der Gesamtausgabe war nicht nur aufwendig, sondern auch teuer – rund 10 Millionen Franken waren allein für die letzten zehn Jahre des Projektes budgetiert. Und: «Auch künftig wird uns die Gesamtausgabe als Gesamtkunstwerk, als ein in Neuauflagen zu pflegendes Kulturgut, weiterbeschäftigen.»


