Mit freiem Lernen zum Schulabschluss
Kann es funktionieren, wenn Kinder selbst bestimmen, was sie lernen möchten? Ein Besuch in der demokratischen Schule Fokus.
Im Arlesheimer Tal, etwas abgelegen neben einer Druckerei, liegt die demokratische Schule Fokus. Seit 2017 stehen hier, am Malsmattenweg 3, ihre farbigen Räumlichkeiten. Als ich an einem kalten Freitagmorgen vor dem Schulgebäude stehe, wird mir der Eintritt erst noch verwehrt – anders als die Volksschule ist die Fokus-Schule abgeschlossen. Nachdem mich drei Schülerinnen entdeckt haben, wird mir die Tür geöffnet. Geschlossen ist sie, damit keine Unbefugten hineinkommen – aber auch, damit die Jüngeren das Gelände nicht verlassen können, erklärt mir Schulleiterin Brigitte Wechsler. Denn in dieser Schule sitzen die Schülerinnen und Schüler nicht von morgens bis abends in Klassen zusammen. Die Fokus-Schule setzt vielmehr auf das Konzept des selbstständigen Lernens. Was das bedeutet, wird sich später zeigen.
Zuerst aber werde ich von Léan, Carla und Emma begrüsst. Die drei übernehmen heute die Schulführung, die Schulleiterin zieht sich zurück. Unterstützt werden die Mädchen im Alter von 9 und 10 Jahren von der 21-jährigen Miya, die selbst an der Fokus-Schule ihre Schulzeit verbracht und hier auch ihre Ausbildung zur Fachfrau Betreuung absolviert hat. Sie ist an der Schule als Begleiterin – wie die Lehrpersonen hier heissen – tätig.
Zertifizierungen, Minecraft und Tanzen im Schnee
Léan, Carla und Emma zeigen mir einen Raum voller Legos, wo sie ihre eigenen kleinen Bauprojekte umsetzen, und erklären mir die Regeln, die für diese Aufgaben gelten. Sie führen mich weiter in den «Chill-Raum» für Jugendliche und zeigen mir anschliessend den Komiteeraum. Der Ansatz der demokratischen Schule Fokus ist ein partizipativer: Das bedeutet, dass etwa im Streitfall zwischen zwei Kindern ein sogenanntes Klärungskomitee die Sache bespricht. In diesem sind neben Betreuungspersonen auch Schüler vertreten. «Wir suchen im Komitee dann gemeinsam eine Lösung», erklärt mir Emma, während sie mich weiter zum Kreativraum führt.
Dort findet ein sogenanntes Lernatelier statt. Die Schülerinnen und Schüler der Fokus-Schule haben keinen fixen Stundenplan, sondern sind in ihrer Tagesgestaltung freier. Morgens zwischen 10 und 12 Uhr müssen sie sich für ein Atelier entscheiden. Zur Auswahl stehen an diesem Freitag Naturwissenschaften, die Holzwerkstatt, die Küche, der Computerraum, oder eben das Kreativatelier.
Während wir den Gang entlang spazieren, erzählt mir Léan, dass sie nicht völlig frei entscheiden könne, wann sie wo sein möchte: «Es braucht für bestimmte Räume oder Orte sogenannte Zertifizierungen», sagt die 9-Jährige um dann gleich vorwegzunehmen, dass sie derzeit in der Probezeit für die nächste Zertifizierungsstufe sei. «Die Schülerinnen und Schüler müssen zeigen, dass sie die Verantwortung, die mit bestimmten Rechten verknüpft sind, tragen können», erklärt Betreuerin Miya.
Als wir im Kreativatelier ankommen, rennen uns ein paar Kinder entgegen – sie sind auf dem Weg nach draussen, denn es hat angefangen zu schneien. «Sie freuen sich über die Schneeflocken, also lassen wir ihnen diesen Spass», erklärt mir eine Mitarbeitende. Léan, Carla und Emma tanzen auch kurz im Schnee, bevor sie mir Pizzaofen, Kinosaal, Turnhalle, Tanzraum und fast beiläufig einen 3D-Drucker zeigen. Carla möchte die Führung gegen Ende nicht mehr begleiten und verabschiedet sich wieder ins Kreativatelier. Auch das ist hier möglich.
Im unteren Stock des zweigeschossigen Gebäudes setzen sich zwei Jugendliche mit Matheübungen auseinander, daneben liest eine andere Schülerin in einem Geschichtsbuch. Gleich nebenan liegt der Computerraum – hier tummeln sich viele Kinder um die Bildschirme. Emma nutzt den Computer gerne, um Wohnräume mit einer Architektursoftware einzurichten, verrät sie mir. Die meisten der Schülerinnen und Schüler spielen an diesem Morgen Minecraft oder basteln an Figuren für das Spiel. «Hier müssen wir uns eintragen, wenn wir an den Computer möchten», sagt Léan und zeigt auf eine Liste. Davon gibt es in der Schule viele. So ganz frei ist der Schulalltag eben doch nicht.
«Wir haben unzählige Regeln»
Das bestätigt Schulleiterin Brigitte Wechsler, als wir uns später zum Gespräch im «Sprachenraum» treffen: «Wir haben unzählige Regeln, die meisten sind über die Jahre zusammen mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet worden.» Grundlage der Schule sei das selbstbestimmte Lernen in einer «demokratisch organisierten Schulgemeinschaft». So entscheide über sämtliche Belange des Schulalltags die Schulversammlung, die aus allen Schülerinnen, Schülern und Mitarbeitenden bestehe.
Das Schulmodell gehe unter anderem auf die Sudbury Valley School zurück, eine Privatschule, die Ende der Siebzigerjahre im Geiste der 68er-Bewegung entstanden ist. Die Grundidee dieser Schulen ist es, glaubt man den entsprechenden Informationsfilmen auf YouTube, die Kinder frei entscheiden zu lassen, womit sie sich beschäftigen möchten. So kann es sein, dass Schülerinnen und Schüler während eines ganzen Jahres nur Computer spielen. Lernen Kinder dabei wirklich das Richtige? Wechsler erklärt, die Fokus-Schule habe sich stark weiterentwickelt von der Grundidee. «Das Schulmodell ist auf die gesellschaftlichen und die kulturellen Gegebenheiten der Schweiz angepasst worden.» Reines Computerspielen gäbe es hier nicht. Die Onlinemedien hätten sich grundlegend verändert in den vergangenen Jahren. «Deshalb haben wir in Bezug auf den Umgang damit viele Regeln aufgestellt.»
Was lernen Kinder, wenn sie selbst entscheiden können?
Die Fokus-Schule bietet täglich eine Betreuung von 8 bis 17 Uhr an, die Verpflegung ist inklusive. Am Mittwochnachmittag ist schulfrei, Anwesenheitspflicht gibt es nur von halb 10 bis 15 Uhr – auch da verfolgt die Schule einen liberalen Ansatz. «Es gibt aber ein Wochenpensum, das je nach Stufe variiert und das erfüllt werden muss», sagt Wechsler.
2013 hat sie zusammen mit anderen Eltern die Schule als «gemeinnützige GmbH» gegründet. Sie selbst sei «über 14 Umwege» zu dieser Idee gekommen. «Als ich Mutter wurde, habe ich mich mit dem Schulsystem auseinandergesetzt und bin auf das Sudbury-Modell gestossen. Das hat mich fasziniert.»
Doch was lernen Kinder, wenn sie selbst entscheiden dürfen? Und reicht das für einen Schulabschluss? Wechsler bejaht: «Unsere Kinder lernen unheimlich viel, das überrascht uns selbst immer wieder. Wir begleiten die Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg zum Abschluss, den sie selbst anstreben. Dafür bieten wir auch regelmässige Checks an.» Die Schule halte sich an den Lehrplan 21. Für den Übertritt in die Staatsschule – etwa ans Gymnasium – ist eine Aufnahmeprüfung nötig.
Die Eltern würden von Anfang an stark eingebunden. «Es gibt immer wieder Zweifel von Eltern, das ist normal. Deshalb ist es wichtig, regelmässige Gespräche zu führen.»
Das Schulgeld beträgt 1950 Franken pro Monat
Die Fokus-Schule ist als Kindergarten-, Primar- und Sekundarstufe vom Kanton bewilligt. Als Privatschule finanziert sie sich vor allem über Elternbeiträge: Pro Kind bezahlen Eltern 1950 Franken im Monat. Eine stolze Summe, die sich nicht viele leisten können. Deshalb gebe es einen Fonds für Menschen mit weniger grossen finanziellen Mitteln, erklärt Wechsler. Die studierte Betriebswirtin arbeitet seit Beginn an ehrenamtlich, zahlt sich also keinen Lohn aus. Trotz finanzieller Eigenleistungen sei das Budget eher knapp. Mit ein Grund, weshalb die Schule wachsen möchte. Derzeit besuchen 30 Kinder im Alter zwischen 4 und 17 Jahren die Fokus-Schule. «Damit es mehr Auswahl an ‹Gspänli› gibt, wäre eine höhere Schülerzahl sehr wünschenswert», sagt Wechsler. Die Schule habe Kapazitäten für rund 50 bis 60 Kinder.
Um auf sich aufmerksam zu machen – und um Geld für den Fonds einzunehmen –, veranstaltet die Schule am 6. Dezember einen Erlebnis- und Genussmarkt. Zeitgleich wird auch eine Ausstellung mit Skulpturen von elf Kunstschaffenden, darunter Claire Ochsner und Joel Schneebeli, zu sehen sein. Programm und Flyer haben die Kinder mitgestaltet.
Inzwischen sind wir am Ende der Führung angekommen. Ich suche die drei Mädchen, um mich zu verabschieden. Sie basteln im Kreativraum Weihnachtskärtchen. Auf den Markt freuten sie sich, sagen sie. Fast mehr noch aber auf das Foto, das von ihnen in der Zeitung erscheint.
Markt und Kunst
fam. Am 6. Dezember öffnet die Fokus-Schule ihre Tore von 14 bis 20 Uhr. Am Erlebnis- und Genussmarkt wird Kunst von regionalen Kunstschaffenden gezeigt; kreative Aktivitäten und Kulinarisches gibt es dazu.








