Die Chancen im Leben packen

Gertraud Wiggli-von Loewenich war eine der ersten CVP-Kantonsrätinnen im Kanton Solothurn. Die vierfache Mutter lebt mit ihrem Ehemann in Himmelried. Im Interview spricht sie über Chancengleichheit und über ihre vier Leidenschaften: Medizin, Astronomie, Politik und Lyrik.

Veröffentlicht bald einen weiteren Gedichtband: Gertraud Wiggli in ihrem Garten in Himmelried. Foto: Gaby Walther
Veröffentlicht bald einen weiteren Gedichtband: Gertraud Wiggli in ihrem Garten in Himmelried. Foto: Gaby Walther

Wochenblatt: Frau Wiggli, Sie haben nur zögerlich dem Interview zugestimmt, weshalb?

Ich kann nicht viel zur Abstimmung von 1971 sagen. Ich bezeichne mich nicht als Feministin und ich habe nicht aktiv für das Frauenstimmrecht in der Schweiz gekämpft. Natürlich wunderte ich mich, als ich 1965 in die Schweiz kam. In Deutschland, wo ich aufwuchs, wurde das Frauenstimmrecht bereits 1919 eingeführt. Als Assistenzärztin und anschliessend als Mutter von vier Kindern beschäftigten mich damals aber andere Themen.

Dann war es in Deutschland normal, dass Sie als Mädchen ins Gymnasium gingen und anschliessend ein Medizinstudium machten?

Meine Familie war nicht reich und meine Mutter musste uns Kinder allein grossziehen. Denn mein Vater war Militärpfarrer und kam kurz nach meiner Geburt in Stalingrad ums Leben. Jedoch wurde von uns mit dem Adelsnamen «von Loewenich» erwartet, dass ich und meine vier Geschwister das Gymnasium besuchten. Danach wollte ich unbedingt Medizin studieren und musste mich durchsetzen. «Du willst Medizin studieren? Das rentiert doch nicht», meinte meine Mutter damals. Das sei eine Verschwendung, da ich ja heiraten würde.

Hatte die Mutter recht?

Nein, es hat sich gelohnt. Ich wollte wissen, wie der menschliche Körper funktioniert. Tatsächlich war ich aber nur ein Jahr als Assistenzärztin in Dornach tätig und gab den Beruf nach der Heirat auf. In kurzer Zeit gebar ich vier Kinder und es war diskussionslos, dass ich weiterhin meinem Beruf nachging. Der Lohn war zu klein, um eine Betreuung zu bezahlen, auch jener von meinem Mann, der ebenfalls Assistenzarzt war. Ein Au-pair-Mädchen hätten wir uns nicht leisten können und Kinderkrippen gab es noch nicht. Später war mein Mann mit seiner Praxis stark beschäftigt und Arbeitsteilung war damals noch gar kein Thema. Heute würde ich sicher in Teilzeit arbeiten. Ich genoss jedoch die Zeit mit den Kindern sehr. Später, als die Kinder gross waren, unterrichtete ich Pflegefachkräfte an einer Fachhochschule und konnte so mein gelerntes Wissen weitergeben. Diese Arbeit bereitete mir viel Freude.

Als eine der ersten Frauen wurden Sie im Kanton Solothurn zur Kantonsrätin gewählt. War das eine schwierige Zeit für eine Frau?

Überhaupt nicht. Ich wurde von den Männern voll akzeptiert und spürte ­keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Ich begann meinen politischen Weg in der Schulkommission in Himmelried, es folgte die Schulkommission der Sekundarschule und des Gymnasiums in Laufen. Später liess ich mich als Kandidatin für die CVP auf die Wahlliste setzen. Im Jahr 1989 rutsche ich in den Kantonsrat nach. Im Kantonsrat ­waren wir von der CVP zwei Frauen. Ich politisierte während zweier Sessionen. Weitere vier Jahre wollte ich nicht anhängen. Ich hatte keine Lust mehr auf den anstrengenden Wahlkampf. Von 2013 bis 2017 war ich Gemeinderätin in Himmelried. Danach fand ich, es genügt für mein Alter.

Das Alter ist aber eigentlich für Sie kein Hindernis. Sie haben mit 62 Jahren ein weiteres Studium begonnen.

Die Astronomie ist neben der Medizin, der Politik und der Lyrik eine weitere Leidenschaft von mir. Ich wusste schon viel darüber und wollte es noch genauer wissen. So absolvierte ich den Studiengang in Basel und fühlte mich gut aufgehoben unter den jungen Studentinnen und Studenten.

Mit 82 Jahren veröffentlichen Sie nun Ihren dritten Lyrikband.

Vor rund 30 Jahren verarbeitete ich ein tragisches Ereignis mit Tagebuchschreiben und entdeckte dabei meine Leidenschaft für Gedichte. Ich besuchte Weiterbildungen und trat einer Lyrikgruppe bei. Schreiben ist eine Arbeit, die man auch im Alter, wenn man langsamer wird, ausüben kann. Lebensende und Tod sind die Themen, die mich im Moment bewegen. Aber ich schreibe auch über die Liebe. Die Liebe hat nichts mit dem Alter zu tun, sondern mit Lebensqualität.

Streben Sie nach Erfolg?

Nein. Gedichte brauchen Ruhe und Einfühlungsvermögen. Es gibt Menschen, die mir ehrlich sagen, sie verstehen den Inhalt nicht. Das ist für mich völlig o.k. Ich schreibe, weil es mir Freude bereitet.

Sie blicken auf ein reichhaltiges Leben zurück. Hatten Sie als Frau Nachteile und was wünschen Sie sich für die Frauen in der Zukunft?

Natürlich gab es auch Nachteile. So war es in meiner Jugend normal, dass wir Mädchen die Schuhe der Brüder putzten und dass wir denn Abwasch zu erledigen hatten. Da half kein Aufbegehren. Und heute würde ich den Beruf als Ärztin nicht mehr aufgeben. Ich finde es gut, wenn die Bedingungen besser werden, um Beruf und Familie einfacher zu vereinbaren und eine Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau möglich ist. Kitas sind immer noch zu teuer, der Schwangerschaftsurlaub zu kurz und der Vaterschaftsurlaub überfällig. Es liegt aber auch an jedem und jeder einzelnen, die Chancen im Leben zu packen, sich weiterzubilden und den eigenen Leidenschaften nachzugehen.

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