Pilotprojekt: Post nimmt Plastiksäcke mit

Reinach geht beim Kunststoffrecycling neue Wege. Plastikflaschen und Getränkeverpackungen können seit Dienstag einfach vor die Tür gestellt werden.

Bringen und holen: Den Pöstlerinnen und Pöstlern kommt mit Reinacher Pilotprojekt eine zusätzliche Rolle zu. Foto: ZVG
Bringen und holen: Den Pöstlerinnen und Pöstlern kommt mit Reinacher Pilotprojekt eine zusätzliche Rolle zu. Foto: ZVG

«Unsere Meere versinken im Kunststoffmüll! Die Ozeane ersticken im Plastik!» Mit solch dramatischen Bildern versuchen Umweltverbände immer wieder, das Thema Kunststoffverschleiss und die daraus resultierende globale Abfallproblematik ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu katapultieren. Die Zahlen sind tatsächlich beeindruckend: In den letzten 40 Jahren hat sich der Kunststoffverbrauch weltweit verzehnfacht, hierzulande wird eine Million Tonnen Plastik pro Jahr verbraucht. Die Schweiz ist zwar Weltmeisterin im Recycling von PET, doch bei den restlichen Kunststoffen sieht die Bilanz mager aus – 80 Prozent davon landen noch immer im Abfall. Damit sind längst nicht nur Getränkeflaschen gemeint, denn fast jedes Produkt ist in Kunststoff verpackt – vom Joghurtbecher über den Salatbeutel bis zur Kosmetikflasche.

In Reinach, wo mit Beginn des Junis ein sechsmonatiges Pilotprojekt gestartet ist, soll sich dies jetzt ändern: Pöstlerinnen und Pöstler bringen seit Dienstag nicht nur Briefe und Pakete, sondern holen werktags auch leere Kunststofflachen und Getränkekartons, die im «Recycling-Sack» bei den Briefkästen deponiert werden können, ab. Die Postboten transportieren die eingesammelten Säcke zur Reinacher Poststelle, von wo aus sie mit der Post nach Frauenfeld in ein spezialisiertes Sortierwerk der Müller Recycling AG gebracht werden. Dabei werden ganz nebenbei auch zusätzliche Lastwagentransporte vermieden, denn die Kunststoffe reisen bis ins Sortierwerk in einem Gebinde, welches sowieso ins Logistikzentrum der Post in Frauenfeld gebracht werden müsste. Eine Fahrt, doppelter Nutzen also. Die Kunststoffflaschen und Getränkekartons werden in Frauenfeld sortiert und für das Recycling aufbereitet. Die Flaschen werden dann in der Schweiz zerkleinert, gewaschen und zu Regranulat verarbeitet, aus dem wieder neue Kunststoffprodukte gefertigt werden können. Für Getränkekartons fehlt derzeit eine Recyclinganlage in der Schweiz, weshalb sie in Deutschland und Frankreich recycelt werden. Während die Kartonfaser für Wellkarton eingesetzt wird, wird das übriggebliebene Alu-Kunststoff-Gemisch entweder als Brennstoff eingesetzt oder für weitere Produkte genutzt. Sämtliche Stoffe werden in der Schweiz wiederverwertet.

Keine Joghurtbecher oder Folien

Der Rücklauf von Kunststoffflaschen, die bisher nur in Sammelstellen bei Grossverteilern wie Migros oder Coop zurückgegeben werden konnten, werde durch das Pilotprojekt erleichtert und derjenige von Getränkekartons überhaupt erst möglich gemacht, so die Verantwortlichen in einer Medienmitteilung. Kunststoffverpackungen wie Folien oder Joghurtbecher werden im Reinacher Pilotprojekt nicht gesammelt, da es um ein selektives, also gezieltes Recycling geht. Durchgeführt wird die Aktion mit dem Titel «Realcycle» von der Redilo GmbH, welche sich seit bald 20 Jahren für ein Kunststoffrecycling in der Schweiz einsetzt.

Co-Projektleiterin Melanie Haupt, die an der ETH Zürich an der Analyse der Abfallströme und den Möglichkeiten des Kunststoffrecyclings forscht, sagt: «Das Pilotprojekt ist ein erster Schritt in Richtung einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft, wo bestehende Synergien bestmöglich genutzt werden.» Die Sammlung durch die Post vereinfacht es der Bevölkerung, gut verwertbare Kunststoffe separat zu sammeln und vor der Haustür beim Briefkasten abzustellen. «Wir verfügen über die nötige Logistik und das Fachwissen, um ein solches Sammelsystem nachhaltig zu betreiben», sagt Patrick Lampert, Leiter Unit Kreislaufwirtschaft bei der Post CH AG. Vorwärtsgetrieben wird «Realcycle» übrigens vom Migros-Pionierfonds, der «Ideen mit gesellschaftlichem Potenzial» finanziell unterstützt und fördert.

Pragmatisches Vorgehen

Für die Energiestadt Reinach macht es sich gut, den vielen Diskussionen, die bereits zum Thema geführt wurden, nun Taten folgen zu lassen. Im Herbst 2019 hatte eine Motion im Reinacher Parlament den Gemeinderat beauftragt, «ein Konzept zum selektiven und damit wirkungsvollen Kunststoffsammeln zu erarbeiten». Das Projekt «Realcycle» kam also wie gerufen: «Als wir davon gehört hatten, war klar, dass wir mitmachen», sagt die zuständige Gemeinderätin Doris Vögeli (BDP). «Wir sind bereits seit längerem mit der Firma Redilo in Kontakt. So sind wir auf das Projekt aufmerksam gemacht worden und bei der Post auf offene Ohren gestossen.» Mit dem Reinacher Projekt werden nicht unbedingt Weltmeere gerettet, aber: «Uns war wichtig, dass mit der Sammlung eine Wirkung erzielt werden kann und Finanz- und Stoffflüsse transparent sind.» Vögeli ist Kennerin der Materie, zieht aber die sachliche Debatte grossen Emotionen vor: «Der Plastik aus Reinach oder aus der Schweiz allgemein landet nicht im Meer, wie oft mit Bildern suggeriert wird — ausser man schmeisst ihn in die Birs oder in den Rhein.» Grundsätzlich stehe an erster Stelle das Vermeiden von Plastik, an zweiter Stelle das Wiederverwenden, an dritter Stelle das Recyceln und an vierter Stelle das Verbrennen. Der 35-Liter-Recycling-Sack ist einzeln bei der Gemeinde, bei der Drogerie Hornstein und bei der Reinigung Näf erhältlich.

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