Seelsorger auf Rädern

Er bringt die Post, hält zum kurzen Schwatz und rettet sogar Leben. Nun wird Pöstler Hans Lütolf Mitte April nach 43 Jahren Dienst in Münchenstein pensioniert.

Poststelle Gartenstadt: Hans Lütolf startet mit vollgepacktem Wagen auf die erste Tour. Foto: Fabia Maieroni
Poststelle Gartenstadt: Hans Lütolf startet mit vollgepacktem Wagen auf die erste Tour. Foto: Fabia Maieroni

Morgens um sechs Uhr beginnt seine Schicht mit dem Sortieren von Briefen. Dazu werden die Couverts in ein Sortiergestell eingesteckt. Jedes Gebäude auf dem Gemeindegebiet hat ein eigenes Fach in diesem Gestell – bei einem Block sind es meist zwei Fächer. Sind die Briefe sortiert, geht es für den Postboten auf Tour. Seit über 40 Jahren bringt Hans Lütolf den Münchensteiner Haushalten morgens ihre Post. Freundlich und immer mit einem guten Spruch auf Lager ist er für viele ein wichtiger Bestandteil der Tagesroutine und gern gesehener Gesprächspartner. «So viel Zeit muss sein», betont Hans Lütolf, der gerne mal für einen kurzen Schwatz anhält. Auch wenn der Zeitplan der Pöstler eng ist: Besonders ältere Menschen freuen sich über den Austausch und warten manchmal schon ganz gespannt, wenn er die Briefkästen füllt, erzählt der Postbote schmunzelnd.

Mit Münchenstein verbunden

«Früher, als ich angefangen habe, musste ich noch mit dem Fahrrad durchs Dorf. Stellen Sie sich vor, den Berg in Münchenstein hoch!» In abschliessbaren Post­säcken wurden die Briefe damals noch in Hauseingängen deponiert, die Hausbesitzer gegen einen Obolus zur Verfügung stellten. «So musste man nicht zur Poststelle zurückfahren. Heute ist das undenkbar», schmunzelt der Postbote, der Brief-, aber auch Paketpost heute mit seinem elektrisch betriebenen dreirädrigen Dienstroller bringt. Die meisten seiner Berufsjahre hat Lütolf in Münchenstein verbracht, wo er zusammen mit seiner Frau Sandra wohnt. Die beiden haben sich auf der Poststelle Münchenstein 1 bei der Gartenstadt kennen gelernt. «Ich arbeite am Schalter, er als Postbote – die klassische Liebesgeschichte», sagt San­dra Lütolf lachend. 1988 wurden die ­beiden ein Paar und sind seither sowohl der Post als auch Münchenstein treu geblieben.

Vor etwa zehn Jahren ist Hans Lütolf zum Betriebsbeamten der Post in Münchenstein befördert worden. Ein Bürojob, in dem er Führungs- und Managementkompetenzen erhielt. Bald jedoch zog es ihn zurück auf die Strassen, zurück an die Briefkästen, zu den Menschen, die er seit Jahrzehnten kennt und bald vermisste. «Die Stimmung im Büro war nichts für mich und so habe ich meine alte Aufgabe wieder angenommen», sagt Lütolf. Ein Abstieg? Keineswegs: «Zwar habe ich meinen guten Lohn wieder abgegeben, aber ich bin so viel zufriedener mit meiner Arbeit als Pöstler.» Das bestätigt auch seine Frau und ergänzt: «Ich habe lieber einen zufriedenen Mann als einen, der viel verdient, aber unglücklich ist.»

Der Pöstler bringt’s und hilft

Auf seinen Touren erlebt Hans Lütolf vieles, meist sei es Positives, sagt der Strahlemann. Zum Beispiel wenn er beim Posteinstecken die jungen Menschen trifft, die sehnsüchtig auf den Brief ihrer Ausbildungsstätte warten. «Wenn ich keinen eingeschriebenen Brief dabei habe, ist es immer gut – dieser beinhaltet in den meisten Fällen nämlich einen negativen Bescheid.» Vor kurzem habe er gleich zwei junge Männer an den Briefkästen angetroffen, die nervös auf Bescheid warteten. Und tatsächlich, am Tag drauf war der langersehnte Brief dabei. Der junge Mann habe das Couvert direkt aufgerissen und vor Freude einen Tanz aufgeführt: Er hatte die Abschlussprüfung bestanden. «Da habe ich mich doch gleich mitgefreut.» Auf seinen Touren ist Lütolf immer nah an den Menschen. Er kennt ihre Geschichten, verfolgt über die Jahre die Entwicklungen in Familien, an Häusern, im Dorf. Manchmal sei es schwierig mitzuerleben, wenn ein Familienmitglied verstirbt oder die Menschen ihre alte Lebenskraft verlieren. In 40 Jahren hat Hans Lütolf schon einige Schicksale miterlebt. Umso schöner sei es, wenn er helfen könne.

Vor einem halben Jahr rettete er einem Kunden gar das Leben. Als dieser mit dem Auto an ihm vorbeigefahren sei, habe er ein komisches Gefühl gehabt, weil er nicht wie sonst üblich grüsste. Ein paar Meter weiter vorne entdeckte Lütolf das Auto wieder, es war abgestellt auf dem Trottoir. «Zuerst dachte ich, der macht ein Schläfchen, doch als ich ihn versuchte zu wecken, reagierte er nicht.» Der Postbote zögerte nicht lange und rief den Krankenwagen. Wie sich herausstellte, hatte der Mann einen anaphylaktischen Schock erlitten, weil er von einer Wespe gestochen worden war.

«Wir Pöstler haben ein Auge auf die Menschen», sagt Hans Lütolf. Und das Dorf dankt es ihm. Wenn er in seiner Pause auf einem Bänggli in der Lehengasse sitzt, bringt ihm der Dachdecker vom gegenüberliegenden Geschäft jedes Mal einen Kaffee. «Ich darf viele schöne Momente in meinem Job erleben. Und an die muss man denken, wenn man einmal weniger schöne Begegnungen hat.»

Postboten können Freudenüberbringer sein, aber auch schlechte Nachrichten übergeben. Dann seien die Menschen meist genervt oder gar wütend. «In den meisten Fällen wird ihnen aber schnell klar, dass der Postbote nichts dafür kann.»

Wenn seine Schicht gegen 15 Uhr zu Ende geht, hat Hans Lütolf den München-steinerinnen und Münchensteinern die Post gebracht. Und er hat vielen von ihnen mit einem kurzen Gespräch oder einer frohen Botschaft den Tag versüsst.

Das letzte Mal auf Tour geht der Pöstler am 12. April. Dann wird sich der 65-Jährige von seinen Kunden verabschieden und seinen Ruhestand geniessen.

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