Berlins Wetter live in Münchenstein

Das Schaulager zeigt bis am 22. Oktober David Claerbouts Grossprojektion «Olympia», eine ebenso meditative wie faszinierende Begegnung mit dem Phänomen Zeit. Gezeigt wird natürliche Erosion in Echtzeit.

Eine ungewöhnliche Erfahrung von Zeit: David Claerbouts «Olympia» im Schaulager.  Foto: zVg / Tom Bisig, Basel.
Eine ungewöhnliche Erfahrung von Zeit: David Claerbouts «Olympia» im Schaulager. Foto: zVg / Tom Bisig, Basel.

Thomas Brunnschweiler

Das abgedunkelte Parterre des Schaulagers verfügt momentan durch die Projektionen des Werks über das 1936 eingeweihte Olympiastadion von Berlin über einen eigentümlichen Sog. Wer sich nicht vorgängig über das Projekt kundig gemacht hat, glaubt, eine Kamera fahre langsam um das reale martialische Olympia-Stadion herum. Doch man stutzt: Wo sind die Menschen? Wirkt nicht alles zu perfekt? Tatsächlich hat der belgische Künstler David Claerbout das Stadion in jahrelanger Arbeit Stein um Stein digital rekonstruiert. Mithilfe eines Spezialisten für Computerspiele wurde die virtuelle Parallelwelt so programmiert, dass seit März 2016 der Monumentalbau dem natürlichen Zerfall preisgegeben ist – und dies in Echtzeit. Ausgelegt ist der Alterungsprozess auf tausend Jahre. Damit übersteigt die Dimension dieses Werkes den menschlichen Zeit- und Vorstellungshorizont bei weitem. Die Betrachtenden fühlen sich zurückgeworfen auf ihre eigene Vergänglichkeit, die sie hindert, nur schon einen Zehntel des Verlaufs mitzuerleben.

Schwindelerregende Dimensionen

Das Projekt «Olympia» mit dem Untertitel «Der Zerfall des Berliner Olympiastadions in Echtzeit über einen Zeitraum von tausend Jahren» ist «eine schwindelerregende Reflexion über Zeit und Wahrnehmung». Es steht in wohltuendem Kontrast zum Tempo der Zeit und zur Ungeduld, stets Neues zu konsumieren. Die zwei grossformatigen Projektionen machen «das gleichmütige Fliessen der Zeit ohne Filmschnitt auf eine fast körperliche Weise spürbar», wie es im Begleittext heisst. Auf der querformatigen Leinwand lässt sich während einer Stunde die einmalige Umrundung des Stadions miterleben. Die hochformatige Leinwand zeigt dagegen statische Aufnahmen des neoklassizistischen Gebäudekomplexes: Bodenausschnitte, Gräser, Bäume, Architekturdetails und Statuen von Athleten.

Besondere Öffnungszeiten

Der 48-jährige David Claerbout ist mit dem Schaulager und der Sammlung der Emanuel-Hoffmann-Stiftung eng verbunden. Er spielt mit dem Titel seines jüngsten Werkes auf den tausendjährigen Herrschaftsanspruch des Dritten Reiches an. Dessen Geist brachte dieses Stadion in Berlin hervor, in dem die deutsche Führung 1936 ihr ideologisches Konstrukt demonstrierte. Nun wird dieses Konstrukt gleichsam demontiert und der biologischen Zeit der Natur und der Lebenserwartung eines Menschen gegenübergestellt. Himmel und Tageszeiten werden vom realen Wetter in Berlin bestimmt. Die aktuellen Wetterdaten und der Sonnenstand fliessen in das digital berechnete Stadion ein. Damit Besucherinnen und Besucher auch Sonnenaufgänge oder einen Vollmond erleben können, bietet das Schaulager besondere Öffnungszeiten an.

David Claerbout: «Olympia», Schaulager, Ruchfeldstrasse 19, Münchenstein; Eintritt gratis; kostenlose Führungen sonntags um 13.30 Uhr. www.schaulager.org. Besondere Öffnungszeiten: Sonnenaufgang, 20.8. 5.30–18 Uhr; 3.9., 6–18 Uhr. Sonnenuntergang, 22.9., 13–20 Uhr; 13.10. 13–19 Uhr; Vollmond, 5.10., 13–21 Uhr.

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