Die sanfte Kunst der Entschleunigung

In Koproduktion mit dem Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) zeigte neuestheater.ch das Stück «Verweile doch, du bist so schön»: Eine Sternstunde fürs Theater und ein starkes Erlebnis fürs Publikum.

Zwischen Traum und Wachen: Aus der Erinnerung steigt immer wieder die bange Frage auf: «Maman?!»  Foto: ZVG/Joel Schweizer
Zwischen Traum und Wachen: Aus der Erinnerung steigt immer wieder die bange Frage auf: «Maman?!» Foto: ZVG/Joel Schweizer

Bei Rilke heisst es: «Du musst dein Leben ändern.» Wer das Stück «Verweile doch, du bist so schön» von Deborah Epstein und Florian Barth gesehen hat, muss taub sein, diese Botschaft nicht auch vernommen zu haben. Doch das Projekt über die Betrachtung von Zeit ist fern allen Moralisierens. Der poetische Bilderbogen, den die Zuschauer via Kopfhörer verfolgen, ist eine Collage aus Texten von Proust, Pessoa, Walter Benjamin, Franz Kafka und Thomas Mann; ein Stück, das zeigt, dass es jenseits permanenter Gereiztheit und Bespassung noch etwas anderes gibt: Existenzielle Fragen nach dem Wesen der Zeit und des Daseins. Was hat das Ich mit der Zeit zu tun? Warum werden wir zu den Geschichten, die wir lesen? Was macht das Erinnern mit uns? Was ist der Traum? Was Langeweile? Kann man etwas vom Leben mitnehmen? Und warum ist genau diese Frage so töricht?

Vor der Premiere am Samstag gab Katharina Rupp, Schauspieldirektorin des Theater Orchester Biel Solothurn, eine Einführung und zitierte Florian Barth: «Nur die Erinnerung kann einen Zeitbogen spannen.» Es sei kein Zufall, dass alle Texte von Autoren stammten, die am Ende des 19. Jahrhunderts geboren worden seien. Man solle im Spiel keinen roten Faden suchen, sondern sich der «wohltuenden Entschleunigung» hingeben. Neben dem festen fünfköpfigen TOBS-Ensemble spielten die Kinder Silas Glanzmann und Uma Wildbolz mit. Tatjana Sebben, Günter Baumann, Tom Kramer und auch Silas Glanzmann gaben je Marcel Proust – im braunen Tweed und mit Schnurrbart. Barbara Grimm und die an pantomimischer und stimmlicher Verwandlungskunst kaum zu überbietende Atina Tabé spielten Frauenrollen. Dass sich alles um Prousts «Die Suche nach der verlorenen Zeit» dreht, war bald klar. Proust entkleidet sich, zieht den Pyjama an, legt sich schlafen. Das dauert – für die einen mag das quälend lange erscheinen, für die andern – wie für den Rezensenten – unglaublich entschleunigend.

Intensität in jeder Beziehung

Die andern Figuren tauchen auf, frieren in ihren Bewegungen ein. Sätze wiederholen sich, alles wie im Traum. Immer wieder der bange Ruf: «Maman?!» Mitternacht. Blitz, Donner, Videoeinspielungen, Chaos. Alle bewegen sich in Zeitlupe. Dann ein psychedelisches Intermezzo mit spastischen Alltagsbewegungen. Und wieder: «Maman?!» Plötzlich erschreckt uns Atina Tabé mit der schauerlichen Stimme Golums. Überhaupt lebt das Stück von der Intensität der Texte, von der kongenialen Choreografie Epsteins, der raffinierten Bühnentechnik Barths und starken Schauspielern. Höhepunkt ist die Madeleine-Passage aus der «Recherche» von Proust. Die Zuschauer erleben hier im besten Fall ihr mystisches «Das-bist-du-selbst». Spätestens dann, wenn sich alle als riesige Ratten auf die Liegen eines Sanatoriums betten und der kleine Silas in völlig selbstverständlicher Weise aus Thomas Manns «Zauberberg» rezitiert, weiss man: Das ist grosses Theater.

Archaischer Reigen

Premiere von «Vikarë» von Demetre Gamsachurdia, einer Produktion der Delirium Foundation, Delirium Edition. Ein archaischer Reigen in zwei Raumzeiten mit Texten von St.- Exupéry, da Vinci, Maria Curie und Demetre Gamsachurdia; neuestheater.ch, Dornach, Premiere Samstag, 9. Juni 2018, um 19.30 Uhr. Öffentliche Generalprobe mit anschliessender Kollekte, Freitag, 8. 6., 19.30 Uhr; letzte Vorstellung, Sonntag 10. 6., 18 Uhr.

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